Wenn ich davon ausgehe, dass Kunst ein Spiegel der Gesellschaft ist – dann bewerte ich die heutige Situation wie folgt:
Gut, dass es in der Kunst-und Kulturszene so kracht. Das zwingt diese Menschen dazu, sich anzupassen. Wer überlebt, wodurch? Wie? Diese von Haus aus intelligenten, schnellen, emotionalen Menschen dieser Berufsgruppe sind gezwungen schnell zu agieren, zu reagieren – auszuprobieren, zu scheitern, neues zu kreieren. Jede/r hat da seine eigenen Methoden und Tempi.
Die gesamte Gesellschaft wird davon profitieren. Denn wer glaubt, dass die anderen heute noch wirtschaftlich gesicherten Positionen und Berufszweige davon unberührt bleiben, dem sei gewünscht: möge er/sie recht haben. Ich persönlich vermute, das ganze fliegt allen um die Ohren.
Alle werden sich ihren persönlichen Fragen stellen müssen: nach den eigenen Werten, eigenen Ängsten, eigenen Bedürfnissen, eigenen Themen.
Ich bin so froh! Dank Corona wird eines DER Tabus ans Licht gezerrt:
Wir sind sterblich.
Und bis wir sterben wird gelebt: hast Du Deine Zeit zum Wohle aller genutzt? Dann wird abgerechnet und die uralten Fragen tauchen auf:
- Hast Du genügt?
- War es richtig oder falsch?
- Wie gehst Du mit Fehlern um: Deinen? Den der anderen?
- Hast Du genug geleistet? Diesem Urteil stellen wir uns alle – manche eher, manche später. Wer kann von sich behaupten wirklich im Jetzt zu leben? Jetzt mit sich und der Welt im Reinen zu sein? Ich wünschte, ich wäre es öfter.
Mein Kollege schreibt: „Das neue Normal ist längst da“. Sachlich kann ich dem nur entgegnen: Normal gibt es in meiner Welt nur bei der Schrifteinstellung meines Textverarbeitungsprogrammes. Schon in der Bäckerei habe ich die ein oder andere Verkäuferin zu humorvollen Entgegnungen gebracht, wenn ich gedankenlos ein „normales“ Brötchen verlangte. Für mich ist es normal, dass alle ihre Themen und ihre Gründe haben so zu handeln, wie sie es tun. Manches Verhalten bewerte ich in meinem Wertesystem als richtig, manches als falsch. Ich weiß aber auch, dass jede Person in der jeweiligen Situation immer alles richtig macht. Denn wäre es der Person in dem jeweiligen Augenblick möglich anders zu handeln, dann würde sie es ja tun.
Das Thema Verantwortung
Kurz vor dem Shutdown gab es folgende Situation. Im Supermarkt vorm Kühlregal erreichte mich der Anruf einer Kundin, es war die Gleichstellungsbeauftragte einer Stadt in NRW. „Frau Balzer – alle Verantwortlichen hier haben Angst, die falsche Entscheidung zu treffen, bald sind neue Bürgermeisterwahlen: spielen wir die Show oder sagen wir sie ab?“ Meine Antwort war folgende: „Egal, wie entschieden wird, irgend jemand ist immer ärgerlich.
- Wessen Veranstaltung ist es?
- Wer gestaltet?
- Wer ist bereit, die Verantwortung zu tragen?
Wir Frauen, die wir nun miteinander telefonieren und die Zuschauer, die für sich entscheiden, ob sie kommen möchten oder nicht. Wir sollten uns der Situation stellen. Wer ist letztlich verantwortlich? Jeder einzelne.“ In dem Fall war es die Gleichstellungsbeauftrage als Auftraggeberin und ich als Verantwortliche für mich und meine von mir dazu gebuchten Kolleg/inn/en. Sie wollte diese Veranstaltung gerne durchführen. Ich war und bin der Meinung, dass Menschen immer Leichtigkeit und Heiterkeit brauchen. Gerade zu Zeiten wo Ängste und Stress das Immunsystem schwächen, kann ich gemeinsam mit meinen Kollegen dafür sorgen, dass alle mal durch Zwerchfellatmung das Stresslevel auf ein gesundes Maß runter fahren. Das ist mein Selbstverständnis, das biete ich als Dienstleistung mit theatralen Mitteln an. So spielten wir also vor ausverkauftem Haus eine erste Theatershow zu Genderfragen unter Einhaltung des Abstandes auf der Bühne und Desinfektionsmittel im Publikum. Im Nachhinein macht mich das stolz, so Avantgarde zu sein, wie ich es von meinem Berufsstand im Grunde erwarte.
Ich bin dankbar für folgende Erkenntnis:
Jahrelang lebte ich in dem Glauben, dass, wenn ich emotional blank ziehe und mich verwundbar zeige, damit Vertrauen erwecke. Ich zeige meinem Gegenüber: schau, ich bin harmlos, ich tu Dir nix, ich will nur spielen. Oft hat das bewirkt, dass mein Gegenüber durchatmen konnte und tatsächlich entspannt zu sich fand und es damit allen Beteiligten möglich wurde, in Verbindung zu Mitmenschen zu gehen.
Darum reagiere ich misstrauisch, wenn ein Kollege mich fragt, was ich denn tue, statt Rumzujammern – denn Jammern – das wird von vielen minderbewertet – ohne sich selbst und seine Ideen zu zeigen. Ich komme mir vor, wie in der Schule: ohnmächtig abgefragt und zur Rechtfertigung eingeladen.
Das ist mein Problem und dafür kann der Kollege nix. Vielleicht wollte der Kollege auch nur eine Plattform bieten, wo sich verschiedene kreative Köpfe gegenseitig inspirieren. Aber Obacht. Hier beobachte ich in den letzten Wochen eine Art Konkurrenz in Sachen: Wer ist resilienter, besser, schneller, weiter, entspannter, ausgefuchster? Obacht deshalb, weil ich nicht glaube, dass wir die neue Situation auf altbewährte Weise handhaben können. Ich glaube die bisher gängigen – auch von mir als erstes herangezogenen Strategien, die aktiv, effizient, zielorientiert, nach außen orientiert, linear, schnell, pragmatisch, laut, rational, bewertend und hitzig daher kommen, greifen nicht mehr allein.
Es braucht die Leere, das Verzeihende, das Erlauben, die Schwäche, das Weiche. Das Stille. Welche Stille?
Die Kunst-und Kulturgeschehnisse
Ich war perplex: zu welchem Zweck sollte man Künstler mundtot/arbeitsunfähig zu machen?
Als nichts anderes erlebe ich die jetzige Situation, sie erinnert mich an die Szene aus Monty Pythons Ritter der Kokosnuss: der Kampf, bei dem nach und nach alles abgeschnitten wird und nur noch der Rumpf ruft: „Komm her, ich mach Dich fertig!“ Na klar dürfen die Theater wieder öffnen – unter absurdesten Beschränkungen, die wirtschaftlich und künstlerisch für mich eine Zumutung sind. Und nur dem einen Zweck dienen: Ihr könntet doch spielen und seid Eures eigenen Glückes Schmied.
Auf alle Fälle habt Ihr keinen Anspruch auf Schadensersatz. Es geht soweit, dass in der letzten Woche innerhalb der eigenen Stadtverwaltung niemand wirklich sagen konnte, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, um eine Spielgenehmigung zu erhalten. Das Ordnungsamt, das Gesundheitsamt, das Kulturamt verweisen gegenseitig auf einander – ohne Ergebnis. Letztlich kann es heute noch niemand sagen. Aber die Theaterschaffenden sollen sich mal was ausdenken.
Der Passus, der im deutschen Seuchenschutzgesetz vorkommt, in dem geregelt wird, dass Menschen, die schuldlos in wirtschaftliche Not geraten, finanziell angemessen entschädigt werden, ist eher hinfällig, verpöhnt oder missinterpretiert.
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